Ohne Erinnerungen, ohne Menschen und ohne Beziehungen könnte ich meinen Beruf gar nicht ausüben. Hinter allem stecken Bilder, Erlebnisse und Geschichten.
Sollte ich mal auf die Idee kommen, ein Telefonbuch abendfüllend zu inszenieren, dann brauchte ich Geschichten dahinter. Wenn eine Schauspielerin – und sei sie noch so authentisch und intensiv – nur Namen, Nummern und Adressen vorträgt und dies abendfüllend, würde sich bestimmt allgemeine Müdigkeit breitmachen, die langsam aber sicher in Schlaf hinüberführen würde. Wenn aber zu jedem Namen eine Geschichte erzählt oder ein Bild heraufbeschworen wird, dann packt es uns und wir folgen diesen Bildern und Geschichten mit unseren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen.
Lebenswege
Auf einem Lebensweg treffen wir ja immer und immer wieder auf Gefährtinnen und Gefährten. Manchmal begleiten sie uns längere Zeit, manchmal nur ganz kurz. Manchmal verliert man diese Wegbegleiter, weil sich die Wege verzweigen und so trennen. Manchmal gibt es traurige Abbrüche durch Verlust, Tod. Manchmal geht man in Streit oder Frustration auseinander. Und manchmal hinterlässt die gemeinsam verbrachte Lebenszeit ein mulmiges Gefühl. Aber eines haben alle diese kürzeren oder längeren, lockereren oder intensiveren Verbindungen gemeinsam: Zusammen verbrachte Lebenszeit mit Geschichten. Sie sind Teil unseres Lebens geworden und haben teilweise dazu geführt, wie und was wir heute sind. Bei mir ist es auf jeden Fall so: All diese Wegbegleiter sind ein Teil von mir, von meinen Erinnerungen. Die sind nicht einfach ausgelöscht. Sie gehören zu mir, manchmal verdrängt, manchmal immer wieder wie ein Blitzlicht sich meldend, dann wieder belastend und bedrückend oder mit Bedauern geprägt, weil die Wege sich getrennt haben. Wenn jemand einmal mein Weggefährte war, dann gehört er zu meinem Leben, ob man nun noch Kontakt hat oder nicht. Ich habe da irgendwo tief in mir so einen ruhigen See von Treue.
Es gibt dann immer wieder Zeiten, in denen ich mich mehr oder weniger intensiv an diese Begleiter erinnere und es kommt schon vor, dass ich dann versuche, nach Jahren oder Jahrzehnten, Kontakt aufzunehmen. Gerade kürzlich habe ich mich bei einem uralten (nicht auf sein persönliches Alter bezogen) Freund wieder gemeldet. Einfach, weil ich wissen wollte, wie es ihm geht, was für ein Leben er inzwischen hatte, was für Geschichten er zu erzählen weiss. Es ist ausserordentlich spannend, den Faden wieder aufzunehmen und eine Erinnerung wieder in die Realität zu holen. Alte Lebensgeschichten gehen so irgendwie weiter und werden neu aufgerollt.
Enttäuschungen
Manchmal bin ich auch etwas naiv. Wenn mir jemand etwas Gutes tut oder getan hat, dann kann er von mir fast alles haben. Ich versuche dann auch alles für diesen «Freund» zu tun. Dann vertraue ich auf Worte der Freundschaft, auf Versprechungen und auf Beteuerungen. Ich hinterfrage dann nicht und lasse mich ein, mit ganzem Herzen und meiner Loyalität. Und dann muss man halt manchmal tiefe Enttäuschungen hinnehmen. Selber schuld, eigentlich. Warum lasse ich mich täuschen. Ich bin sicher, dass das viele, viele Menschen es auch so erleben. Dann steht man halt wieder auf, schüttelt sich, verbucht das als Lebenserinnerung und -erfahrung ab … und macht bald darauf wieder die gleichen Fehler. Das gehört halt zu Beziehungen: man glaubt, man hofft, man will geliebt und respektiert werden.
Natürlich gibt es auch Geschichten mit Menschen aus dem eigenen Leben, an die man sich lieber nicht erinnert. Trotzdem gehören sie dazu und sind präsent. Auch in meinem Leben gibt es Menschen, die ich nicht mehr sehen und treffen möchte. Sie tun mir schlicht und einfach nicht gut. Die Verletzungen sind zu gross, der Schmerz sitzt zu tief und die Trauer drückt auf die Seele. Trotzdem gehören diese zum eigenen Leben. Und es könnte ja auch sein, dass mir der andere näher war als ich ihm.
Manchmal möchte ich aber auch die Hand zur Versöhnung ausstrecken, um all der vielen Stunden und Tage willen, die man gemeinsam freundschaftlich verbracht hat. Dann kommt plötzlich doch noch die erdrückende Erinnerung, die tiefe Verletzung hoch, und ich ziehe die Hand wieder zurück. Vielleicht ist die Zeit für eine Versöhnung noch nicht gekommen.
Klassenzusammenkunft
Es gibt auch Geschichten und Erinnerungen, die nicht von einzelnen Personen geprägt sind. Da habe ich letzte Woche eine Einladung zu einer Klassenzusammenkunft der Primarschule in Emmenbrücke erhalten. Was soll ich nun? Hingehen? Sicher, mich interessieren die Lebensgeschichten der einzelnen Schulkolleginnen und -kollegen brennend. Geschichten, die dann irgendwo in mir haften bleiben und vielleicht in einer anderen Form in einer meiner Theater- oder Romanfiguren aufleben. Aber ich zögere noch, die Einladung anzunehmen. Wenn ich an meine Schulzeit denke, überkommt mich eine tiefe, schmerzende Trauer. Nicht in Bezug auf Einzelne, sondern ein elendes Gefühl gegenüber der ganzen Klassengemeinschaft. Ich fühlte mich nie angenommen, immer abseits, alleine und ausgeschlossen. Diese Zeit war für mich, wie wenn ich ein fremdes Wesen wäre, das nicht so ist wie die anderen. Ich habe sie nicht verstanden und sie mich nicht und doch wollte ich zu ihnen gehören. Und nun soll ich den Faden der Erinnerung wieder aufnehmen und in die Realität holen? Vielleicht sollte ich das? Vielleicht sollte ich die Gelegenheit dieser Zusammenkunft nutzen, um zu fragen, wie man mich wahrgenommen hat. Könnte ja eine Bereicherung werden und Druck von der Seele nehmen.
Auf jeden Fall liefern all die Geschichten und Erfahrungen ohne jede Bitterkeit den Stoff für spannende Figuren. Diese bekommen dadurch Tiefe und Wahrhaftigkeit. Ich bin froh und wirklich dankbar über all diese Erfahrungen und die mit den unterschiedlichsten Menschen verbrachte Lebenszeit. Sie haben mich schlussendlich bereichert. Und ich freue mich in den kommenden Jahren auf die Begegnung mit alten und neuen Weggefährtinnen und -gefährten mit all ihren persönlichen und mit vielen gemeinsamen Geschichten.
Herzlich Ihre Iris Minder
(Foto: Symbolbild, Orts- und Verkehrsverein Schönemoor e.V.)
5 Kommentare
Ja, wie wahr. Geschichten sind dann wohl das, was unser Leben prägt. Manche Geschichten möcjhte an lieber vergessen – schaft es aber nicht und andere dürften sich endlos wiederholen 😉
LG Franziska
Ja Iris, du sprichst mir – und bestimmt vielen anderen Menschen – aus dem Herzen. Aber ist nicht genau dies ein Teil unseres Lebens, welcher dieses auch spannend und lebenswert macht.
Und ich finde du solltest an der Klassenzusammenkunft teilnehmen…. vielleicht denkt der eine oder andere Klassenkamerad heute auch, dass er dich “damals” vielleicht nicht fair behandelt hat und möchte diese wieder gut machen… Nicht jeder, am die Meisten, verdienen eine zweite Chance 🙂
In diesem Sinn wünsche ich allen viele weitere gute Begegnungen…
Liebe Iris, was für ein so guter Beitrag, gratuliere! Was für Geschichten und Weggefährten haben mein Leben geprägt. Was ist alles geblieben in all’ den Jahren, schönes und weniger schönes und das alles hat auch mein Leben geprägt. Doch zu meinen lieben und positiven Weggefährten gehörst auch du. Unser kürzlich gefeiertes 10jähriges Theaterjubiläum ist doch für mich ein Zeichen einer so positiven
Begegnung, die mir dank dir so viel schönes und unvergessliches gebracht hat, dafür danke ich dir.
E liebe Gruess, Hermann
Liebe Iris
Dein Beitrag hat mich berührt und auch aufgewühlt.
Je älter ich werde, desto wichtiger werden mir meine Freundschaften. Wenn ich auf meine Jahre zurückblicke, entdecke ich Perlen und Nieten. Perlen sind Menschen die ich nur hin und wieder sehe. Sitzen wir aber zusammen, ist es als hätten wir uns gestern getrennt. Perlen sind Menschen die mir vielleicht nur kurz begegnet sind, aber einen reichhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Perlen sind all Diejenigen die mich bereichern und glücklich machen. Sie können sich auf mich verlassen. Um nichts auf der Welt würde ich sie hergeben. Mich freut es, dass ich auch im Alter Menschen in meine Perlensammlung aufnehmen kann. Meine Nachbarschaft, meine Schmetterlingsfrauen, meine schrullige Truppe… Danke, für euer Dasein und dass ihr Teil meiner Geschichte geworden seid.
Die meisten Nieten habe ich losgelassen und ich hoffe, dass sie sehr glücklich geworden sind. (Das ist vielleicht leicht übertrieben)
Sylvaine
Hallo Iris , Du hast wieder einmal voll ins Schwarze getroffen ! Manchmal vertraut man Menschen eben zu viel . Man wird ausgenützt, und vor allem psychisch verletzt. Trotz meinen 71 Jahren habe ich falschen Freunden vertraut . !!!
Werde mich nun aus dem Grenchner Geschehen zurückziehen !!!
Dir aber möchte ich von ganzem Herzen danken ! Für alles, was Du für Grenchen , die Zauberei und auch für Martina und mich getan hast !!! MERCI
In Ewiger Freundschaft !!!
Urs Saner (ORSANI)