Iris Minder

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E chli zrügg luege (3)

Was für schöne Kommentare auf mein letztes «Zrüggluege»! Danke herzlich dafür.

Mit dem Erinnern ist das so eine Sache. Die auftauchenden Bilder kann man nicht steuern. Sie kommen einfach und mit ihnen neue Bilder und alles hängt irgendwie zusammen. Am Schluss verbindet sich alles zu einer ganzen Geschichte. Diese Coronazeit gibt einem beispielsweise die Gelegenheit, all die feinen Vorräte, die in der Tiefkühltruhe lagern, zu verwerten.

Dabei fällt mir auf, dass ich relativ wenig Gemüse eingefroren habe. Und schon passiert es: Eine Erinnerung taucht auf!

Die absolute Neuheit und ein Hit sind Ende der 50 Jahre die öffentlichen Gefrierhäuser

Jeder muss gut schauen, damit das Haushaltgeld bis Ende Monat reicht. Ich weiss von meiner Mutter, dass sie oft kurz vor dem neuen Lohn alle Taschen durchsucht hat, um noch ein paar Rappen zu finden. Das Gehalt meines Vaters – als reformierter Lehrer in einem katholischen Kanton nicht wählbar und deshalb ohne vollen Lohn – reicht nicht aus.

Kleider für uns Kinder näht meine Mutter selbst. So ein Kühlhaus ist deshalb sehr willkommen, kann man doch Gemüse in der Hochsaison günstig einkaufen. Man kann es mit Einfrieren auch schneller verarbeiten und man muss das Gemüse nicht aufwendig in den grünen Bülachgläsern einkochen.

So werden Kilos von grünen Bohnen und Stangenbohnen eingekauft, gerüstet, verpackt und von Emmenbrücke aus über die Seetalstrasse nach Emmen in die Kühlanlage verfrachtet.

Der Transport ist für mich eigentlich eine Freude: Unterwegs sein, Dinge sehen und mit dem Velo (ein schweres Militärfahrrad mit Rücktritt) den Wind spüren. Aber, was dem vorausgeht: Rüsten. Rüsten. Rüsten. Um das Ganze einigermassen rationell zu erledigen, nehme ich immer gleich mehrere Bohnen, schneide zuerst alles oben ab, dann unten. Dies immer wieder mit der Ermahnung meiner Mutter, ja alle Fäden abzuziehen. Das geht allerdings ein wenig an mir vorbei. Hauptsache ist für mich, diese Prozedur so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, um dann wieder draussen herumzutoben.

Die Bülachergläser werden jedoch noch lange genutzt, und zwar zum Einmachen von Birnenhälften. Im Winter sind sie ein äusserst beliebtes Sonntagsdessert und werden zusammen mit Stalder Schokoladencreme und Schlagrahm serviert.

Ich erinnere mich auch noch sehr gut an den legendären Milchmann.

Sein Gefährt hat vorne nur ein Rad und hinten kann man die Seiten öffnen. Dort findet man ein bescheidenes Angebot an Milch und Schweizer Käse, Rahm und mit der Zeit auch Naturejogurt. Von einer derart riesigen Auswahl wie wir sie heute vorfinden, kann man nicht mal träumen.

Wenn er in die Strasse fährt, läutet er und von vielen Seiten her kommen die Hausfrauen zum Einkaufen. Für mich ist das immer sehr interessant, weil da viel geredet und Neuigkeiten erzählt werden. Der eher etwas bösartige Spruch, wenn ein Kind anders ist oder aussieht, es sei vom Milchmann, scheint hier seinen Ausgang zu haben.

Aber dieser bietet halt Abwechslung und die Möglichkeit von sozialem Austausch in einer Zeit ohne Handy, kaum Fernseher und äusserst teurem Telefon. Im übrigen gehört es sich nicht, dass eine 50-Jahre-Hausfrau einfach so ins Tea-Room geht.

Ich erinnere mich gerade auch an einen besonderen Wagen. Eine für uns wirkliche Sensation! Ob es in den 50er oder frühen 60er Jahren ist, weiss ich nicht mehr. Es ist der Migroswagen, der in der Nähe des Meierhöflischulhauses zweimal in der Woche Halt macht. Was da alles zu finden ist! Ich staune mit offenem Mund über dieses Schlaraffenland.

Eine andere Geschichte taucht auf. Keine schöne. In unserer Nähe gibt es ein Quartierlädeli, das von Herrn Kämpfer führt wird. Der hat es völlig mit mir «verchachlet». Das Sackgeld ist sehr bescheiden. Ab und zu bekomme ich ein paar Münzen, wenn ich Frau Küenzli, einer Nachbarin, bei etwas helfe.

In der Auslage draussen bietet Herr Kämpfer Früchte, unter anderem leuchtende Orangen an. Ich zähle meine paar Rappen und lasse mir vom Ladeninhaber eine Orange geben. Voller riesiger Vorfreude renne ich nach Hause in den Garten. Aber dann die grosse Enttäuschung! Der nette Herr hat mir eine angefaulte Frucht verkauft.

Mir ist sofort klar, dass er meint, ich als Kind merke so was nicht. Ich weiss mir nur zu helfen, indem ich sofort zurückrenne, die faule zurück in die Auslage lege und eine gesunde Orange nehme. Aber ich rechne nicht mit dem Kämpfer. Der rennt heraus, packt mich, reisst mir die Orange aus den Händen und legt sie neben die von mir zurückgegebene faule. Ich sei eine Diebin, und er werde es nächstes Mal der Polizei melden.

Dass ich die Orange nur gegen die von ihm verkaufte faule Frucht getauscht habe, wollte er gar nicht hören. Ich sei eine Lügnerin. Diese Ungerechtigkeit geht mir noch heute nach. Und immer dann, wenn ich um Gerechtigkeit kämpfe, mich für etwas einsetze und nicht ernst genommen oder nicht verstanden werde, kommen diese damaligen Gefühle von Ohnmacht und Ungerechtigkeit wieder hoch.

Es ist erstaunlich wie solche, eigentlich kleinen Erfahrungen, sich so einbrennen, dass sie einen im ganzen Leben immer wieder einholen. Wie ist es dann erst mit lebensbedrohenden, traumatischen Erlebnissen, wie es die vielen Flüchtlingskinder erleben müssen?

Alles Liebe
Ihre Iris Minder

P.S. Zur Foto: Dieser Chriesibaum fasziniert mich. Halb abgestorben und doch setzt die andere Hälfte alle Kräfte frei um zu leben, blühen und Früchte zu tragen. Wunderschön!

7 Kommentare

    1. Rechts der Frühling, links die Vergangenheit. Ich hoffe, ER vermag die Last noch tragen, zumal die Früchte ja noch kommen. Liebe Grüsse und danke für den wunderschönen Bericht. und……blyb gsund.!
      Marlene

  1. Heute ist Sonntag. Es finden keine Gottesdienste statt, und keine Predigten. Das macht aber nichts. Der Kirschbaum hat eine Lösung gefunden, er ist SELBER die Predigt. Seine Botschaft: von all den vielen Menschen auf der Welt beachten mich höchstens zehn. Meine Reaktion auf diese Ungerechtigkeit – ich blühe!
    Danke, Iris!

  2. An die öffentlichen Gefrierhäuser kann ich mich auch noch gut erinnern. Mit Shorts und T`Shirt bekleidet da ja Sommer war, ging ich jeweils mit meiner Mutter und später auch allein ins Kühlhaus und legten Gemüse und Früchte in unser gemietetes Fach. Bekleidet waren wir mit einem warmen Mantel aus alten Militärdecken der beim Eingang hing. Trotzdem zitterte ich vor Kälte und war jedesmal froh, wenn wir wieder vor der Türe standen. Dieser düstere, eiskalte Raum jagte mir Angst ein, Panik auch, dass ich am Schluss die schwere Türe nicht mehr öffnen könnte und elendlich erfrieren müsste. Ich war dann glücklich. als mein Vater eine Tiefkühltruhe nach Hause brachte.

  3. Wie schön solche Erinnerungen sind werden einem so richtig bewusst in einer Zeit in der sich die Welt ein bisschen langsamer dreht. Gut so, Zeit um sich zu erinnern, wie man auch mit wenig zufrieden war. Man war stolz Gemüse und Früchte zu bearbeiten um sie haltbar zu machen. Ich erinnere mich wie wir Bohnen aus dem eigenen Garten schwellten und längs einschnitten. Dann spannten wir auf dem Estrich, unter dem Dach, kreuz und quer Schnüre. Alsdann ging es ans Aufhängen der vorbereiteten Bohnen. Denke noch heute wenn ich im Supermarkt gedörrte Bohnen kaufe an diese schöne Zeit zurück

  4. Danke, Iris,für die eindrückliche Geschichte aus Deiner Kindheit.
    So viel Schönes wird erinnert, aber auch viel Schweres, dem man als Kind hilflos ausgeliefert ist.

  5. Liebe Iris
    Danke für den schönen Bericht. Da kommen mir wieder Begebenheiten in den Sinn,
    es gäbe grad wieder Stoff für ein Theaterstück, so vieles das man vergessen hat.
    Uebrigens, das Kühlhaus kam mir auch so fürchterlich kalt und unheimlich vor.
    Du weist ja ich bin in einer Käserei aufgewachsen und ich kann mich noch so gut
    an Geräusche erinnern. Zum Beispiel, jeden Morgen wenn ich aufwachte, das Rührwerk
    aus der Käserei zuhören oder während der Mittagsruhe in der Stille der Küche nur das Surren einer Fliege. Kleinigkeiten. Aber die Erinnerungen sind noch ganz wach.
    Ich wünsche dir einen schönen Sonntag.

    Liebe Grüsse Margrit

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