Iris Minder

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Ich habe kürzlich mein Poesiealbum aus der Schulzeit hervorgeholt. Schön, wenn man heute sehen kann, wie sich alle Mühe gegeben haben zu zeichnen und Wünsche zu äussern.

Diese Wünsche sind: Dass man fromm bleibt, ein reines Herz hat, dass Gott immer bei mir sei … Am 7. Juni 1964 schreibt meine Schulkollegin Margrit: «Schau vorwärts nie zurück. Jeder Tag bringt neues Glück.» Das passt sehr gut zu meinem Statuseintrag von vor zwei Wochen und regt mich nun an, etwas darüber zu schreiben.

Für den Whatsapp-Status habe ich den Sonnenaufgang von zuhause aus mehrfach fotografiert und daraus ein kleines Filmchen gemacht, untermauert von der Musik «Love is in the air». Dazu habe ich folgendes geschrieben «Neuer Tag – Neue Hoffnung – Neue Chance». Eine Kollegin schrieb mir zurück: Die Hoffnung sei am wichtigsten. Ich habe dann sofort geantwortet: Man soll die Chance nicht vergessen.

 

Neubeginn, Hoffnung und Chance

Wie stehen diese fundamentalen Begriffe zueinander? Die Hoffnung braucht es. Unbedingt. Aber sie alleine genügt nicht. Man braucht, damit sich das, was man sich erhofft, auch erfüllt: Die Chance. Es ist keine Chance, die von aussen kommt, von anderen Menschen, vom Schicksal, von irgendwoher. Bei der Chance muss man selber aktiv werden, sie sehen, sie sich nehmen. Und wenn das «aktiv werden» nur bedeutet, etwas zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Ich denke, wenn wir uns nur auf die Hoffnung konzentrieren, dann klingt das für mich passiv. Man bewegt selber nichts, man stagniert und dreht im Kreis und im schlimmsten Fall gerät man in eine Spirale, die in die Tiefe führt. Warum? Weil man selber nicht daran arbeitet, etwas zu verändern oder einfach anzunehmen und sich nicht auf später vertröstet oder es vom Umfeld erwartet. Ich kenne einige Menschen, die sich nur noch über ihre Leiden definieren und hoffen, dass alle Mitleid mit ihnen haben. Sie möchten geliebt, umsorgt und bedauert zu werden. So bleibt man stehen.

Nehmen wir das bevorstehende Alter. Heute hat man die grosse Hoffnung, dass man «gesund» alt und «gesund» sterben werde. Man hofft, dass man bis zuletzt selbstbestimmt sein kann, weder durch körperliche Hindernisse wie Hirnschlägli, zerfressender Krebserkrankung oder Demenz belastet, das hohe Alter erleben darf. Das ist aber einfach die Hoffnung. Was kommen wird, weiss niemand. Die Chance jetzt ist, dass man zwar die Hoffnung haben darf, aber sich auch klar sein muss, anzunehmen, dass es auch anders werden könnte, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Und diese Chance des Annehmens wird einem vieles im Jetzt leichter machen und vor allem die Ängste nehmen. Es kommt wie es kommen muss und wenn das Schicksal zuschlägt, werde ich es akzeptieren und so meistern können. Diese Chance habe ich. Und das gilt für alle Steine, die einen auf den Weg gelegt werden, von beruflichen Plänen, familiären Herausforderungen, Rückschläge jeder Art usw. Ich kann hier allerdings nur von mir und meinen persönlichen Erfahrungen sprechen.

Persönliche Erfahrung

 Ich möchte aufs Jahr 2003 zurückschauen. Ganz persönlich. Meine grossen Schmerzen im linken Fuss, haben mich dazu geführt, zum Arzt zu gehen. Die Diagnose: Psoriasisarthritis. Man begann mit Immunsuppression usw. Für mich war es halt eine Krankheit, die man aber mit diesen Mitteln in den Griff bekommen wird, auch wenn mir bewusst war, wie stark und eingreifend diese Mittel sind. Die Hoffnung, es kommt alles gut, war wie selbstverständlich und ich nahm es auf die leichte Schulter. Das sind jetzt 17 Jahre her. In der Zwischenzeit wurde ich eines andern belehrt: Von den Füssen über den Rücken bis zu den Schultern und Händen sind sehr viele Gelenke durch diese Krankheit sehr stark betroffen. Die chronischen Schmerzen behindern mich im Alltag immer mehr. Und jetzt vermengen sich irgendwie Hoffnung und Chance. Auf der einen Seite die Hoffnung, dass es nicht schlimmer, weil ich meistens mit den momentanen Schmerzen umgehen kann. Die Chance 1: Um mir das Leben etwas einfacher zu machen, sind sicher die Schmerzmittel hilfreich. Die Chance 2: Sie liegt in mir und an mir: Akzeptieren, dass ich vieles nicht mehr tun kann. Dass ich um Hilfe bitten darf und soll. (Was mir schwer fällt) Dass es jetzt halt so ist wie es ist. Es bringt mir nichts zu hadern, zu jammern, um Mitleid zu heischen, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ich gewinne dadurch, weiter aktiv im Leben zu stehen, etwas eingschränkt, aber zufrieden.

Ich kenne eine junge Frau, die immer wieder mit schwersten Depressionen kämpfen muss, die häufig sogar hospitalisiert werden muss. Aber ich bewundere sie in höchstem Masse, wie sie die guten Phasen in ihrem Leben geniesst, eine ruhige Freude ausstrahlt und die andern Phasen, das grosse Leiden, akzeptiert. Eine ganz, ganz bewundernswerte Frau!

Klar, es gibt für alle immer wieder Lebensstürme, aus denen man es fast nicht schafft herauszukommen. Sie nehmen einem die Hoffnung und man sieht den Weg hinaus nicht. Aber diese Stürme bieten immer wieder Chancen an und wenn es nur die Gewissheit ist, dass man Stürme überleben und sogar gestärkt draus hervorgehen kann. Oder wenn diese Stürme aufzeigen, wer wirklich ein Freund ist. Oder wenn diese Stürme einen neuen Weg erhellen. Oder wenn diese Stürme Altes ablegen lassen. Oder wenn diese Stürme Schlussstriche machen lassen.  Das sind die Hoffnungen und darin liegen die Chancen, die man ergreifen kann. Aber man muss sie selber, aktiv ergreifen. Jetzt! Genau in diesem Moment!

Und so wirken gewisse Poesiealbumeinträge bis heute:

«Jeder Tag bringt neues Glück» «Jeder Tag bringt neue Chancen».

Herzlichst Ihre

Iris Minder

4 Kommentare

  1. Liebes Iris, Du hast mich inspiriert zum sofort mein Poesiealbum heraus zu nehmen. Wunderbar darin herum zu stöbern….! Da dichtet meine Mutter (Cousine deines Vaters) :
    Sollt‘st Du Dich im Leid vergraben,
    Denk an uns‘ren Hundeknaben:
    Der war imme munter,heiter,
    Auf der ganzen Lebensleiter!
    Dazu hat sie auch noch unseren „Netti“
    gezeichnet.
    Herzlichst von Erika

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  2. Es hat mich berührt, plötzlich und unverhofft unserem Grossmuetti mit ihrem Satz gegenüberzustehen! Auch von ihr ein schönes Vermächtnis.
    … und auf dem zweiten Bild steht Copyright! Ich kann mich sogar noch erinnern, als ich es malte. Du, grosse Schwester, bist daneben gesessen, hast gesagt, ich soll mir Mühe geben, es sei wichtig und ja die Kurve beim s richtig machen! wie man sieht, brauchte ich für den s zwei Anläufe. Ich war ja auch erst 4 1/2!
    Doris

  3. liebe Iris, ein wundervoller Bericht, der mich jedoch auch unglaublich aufgewühlt und äusserst nachdenklich gestimmt hat. Coronaconform umarme ich dich aus der Ferne ganz ganz fest … momentan lese ich das Buch der Enkelin von Charly Chaplin, die sich als Lebensaufgabe gestellt hat, herauszufinden, wie sich das Lachen auf unsere Psyche und den Körper auswirken … unglaublich … was sie herausgefunden hat …

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