Weihnachten nennt man ja auch das Fest der Liebe. Deshalb möchte ich heute eine ganz besondere Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Liebe, die nicht sein durfte. Eine Geschichte wie Romeo und Julia, aber zum Glück nicht mit tödlichem Ausgang. Eine Geschichte, die aber mein Leben geprägt hat. Es geht um meine erste grosse Liebe.
Meine Eltern haben ein Studentenheim im Luzern aufgebaut und geleitet. Die vielen Menschen, meist Musikstudenten, eröffnen mir eine ganz neue Welt und ich lebe richtig auf. Die Welt sozusagen zuhause, in den eigenen vier Wänden. Und da lerne ich ihn kennen: Jaime. Er ist Brasilianer, Geiger und ein hochbegabter Musiker, der bereits mit fünf Jahren mit Orchestern konzertierte. Wir verlieben uns unsterblich. Was für eine intensive, grossartige Zeit! Wer sich an seine erste grosse Liebe erinnert, weiss wovon ich rede. Alles spielt verrückt. Jeden Morgen finde ich – bevor ich ins Gymi gehe – entweder im Mantel oder in meiner Mappe ein kleines Liebesbrieflein, oft nur ein paar Worte. Sich geliebt und angenommen fühlen, eine ganz neue grosse Erfahrung. Der Himmel hängt nicht nur symbolisch voller Geigen, sondern durch ihn tagtäglich, real. Es spielt für mich. Ich gehe auf in seiner Musik. Ja, es hat mich sogar so motiviert, dass ich mich intensiv mit dem Klavierspielen beschäftige und sogar am Konservatorium Unterricht nehme. Es ist übrigens das Jahr, in dem der erste Mensch auf dem Mond landet. Wie symbolisch!
Und dann diese prickelnden Heimlichkeiten. Ich weiss bis heute nicht, was meine Eltern genau mitbekommen haben. Sicher ist, dass sie wissen, dass wir verliebt sind. Aber haben sie alles gemerkt? Beispielsweise, wie ich nachts aus meinem Schlafzimmerfenster steige, am Zimmer meiner Eltern vorbei, über den Vorplatz, über das Flachdach der Waschküche ins Zimmer von ihm. All die Spaziergänge Hand in Hand, die heimlichen Zärtlichkeiten, die Pläne für eine gemeinsame Zukunft …
Und dann das Unheil! Eine Liebe im höchsten Glücksgefühl wird von einem Tag auf den andern zerstört und unterbunden. Ein wirklicher Schock. Die Kopie aus der Biografie von Rudolf Baumgartner zeigt, wie ernst und einschneidend das alles ist.
Rudolf Baumgarnter ist der Mentor von Jaime. Er leitet die Festival Strings, «formt das Konservatorium zur internationalen Ausbildungsstätte und profiliert die Internationalen Musikfestwochen zum Festival ersten Ranges.» Und in der Biografie dieses grossen Musikers wird unsere Liebe thematisiert!
Unsere Herzen sind buchstäblich gebrochen. Sein Vater behauptet, dass ich es nur auf sein Geld abgesehen hätte. Wer mich kennt, weiss, dass Geld für mich nie, gar nie ein zentrales Thema ist. Diese ungerechte Behauptung hat mich zusätzlich verletzt. Wir versuchen trotzdem etwas Hoffnung zu schöpfen und machen ab, dass ich die Matura mache und dann in die USA, wo er in New York an der Juilliard-School Musik studiert, mein Studium beginne. Wir versprechen uns – völlig erstarrt vor Schmerz – uns so viel wie möglich zu schreiben. Dann der Abschied. Diese Leere. Ich versinke in ein schwarzes Loch. Und diese Schwärze begleitet mich noch Jahre, ja Jahrzehnte. Im Grund genommen bin ich immer auf der Suche nach dieser Liebe, nach Jaime. Ganz grauenhaft ist, dass meine Briefe nie beantwortet werden. Das nimmt mir den Boden noch mehr unter den Füssen weg. Keinen der versprochenen Briefe von ihm. Einfach Null. Leere. Die vielen kleinen Brieflein und Liebesnotizen während unserer gemeinsamen Zeit habe ich viele Jahre aufbewahrt. Um endlich die Trauer los zu werden, habe ich einmal beschlossen, sie fortzuwerfen. Es hat nichts genützt.
Dann Anfang der 90er Jahre – mehr als 20 Jahre nach dem Todesstoss für unsere Liebe – bekomme ich einen Telefonanruf. Ein Englisch sprechender Mann ist dran. Mir stock das Herz, denn ich erkenne die Stimme sofort. Jaime. Er ist in Europa und möchte mich sehen. Wir treffen uns in Basel. Im Bahnhofbuffet. Es klingt jetzt etwas pathetisch: Aber es ist, wie wenn zwei verlorene Seelen sich wieder finden, aber es noch gar nicht richtig realisieren. Hand in Hand irren wir durch die Altstadt von Basel. Die alte, intensive Vertrautheit ist wieder da. Aber auch eine tiefe Trauer. Ich erfahre, dass meine Briefe nie bei ihm angekommen sind. Er vermutet, dass eine Cousine seines Vaters, die im gleichen, riesigen Haus in New York lebt, diese jeweils konfisziert hat. Die Frage, warum er mir von sich aus nie geschrieben hat und ich nicht nur ihm, ist für mich nach wie vor nicht ganz geklärt und hinterlässt etwas Bitterkeit. Weil Jaime das Geschäft des Vaters nicht übernehmen will, streicht dieser ihm das Geld für die Ausbildung. So muss er alles buchstäblich als Tellerwäscher selber verdienen. Wir können uns fast nicht mehr voneinander trennen. Ich fahre mit ihm mit dem Zug bis Olten. Dort müssen wir uns wieder trennen. Trauer. Einfach nur Trauer über eine nicht gelebte Liebe. Seit dann haben wir weiterhin lockeren Kontakt, und ich erhalte immer wieder Nachrichten, in denen er schreibt, wie gross seine Liebe für mich war und immer noch ist. Aber jetzt ist irgendwie alles gut wie es ist. Jaime ist ein grosser und berühmter Musiker in Canada geworden, hat eine wunderbare Familie und führt heute ein hochstehendes Geigengeschäft. Und alles ist gut.
Das Tragische an einer Liebe, die sich nicht entwickeln darf, ist, dass sie genau in dem Moment höchsten Glücks und höchster Verliebtheit abgeschnitten wird. Und genau diese starken Emotionen sind sozusagen konserviert, denn die Beziehung hat sich nie im Alltag bewähren müssen, keinen Streit, keine Frustrationen, keine Missverständnisse. Vielleicht wären wir nicht zusammengeblieben. Aber das konnten wir nie erleben und erfahren. Was jetzt da ist, ist noch das Gefühl von etwas Ungelebtem.
Frohe Weihnachten! Friedliches Fest der Liebe!
Ihre Iris Minder
7 Kommentare
sehr berührend – es wäre wunderbarer Stoff für ein weiteres Thaterstück! Zur Erinnerung: Theater ist ein kulturelles Event, bei welchem Zuschauerinnen auf Macher treffen und magische Momente erleben …just in case: in heutiger Zeit ist Theater ja evtl. nicht mehr allen ein Begriff :))
Hier eine Zusammenfassung der Kommentare als Whatsapp-Nachricht:
– unglaublich schön, berührend. du hast den Höhepunkt einer Liebe und daraus gerissen zu werden so grossartig beschrieben. Danke dir für deine offenen, persönlichen Worte. S.
– Meine Güte – einfach der Wahnsinn – zerstört wie der Schwarze Geiger in Romeo und Julia. A.
– Wunderbar geschrieben, meine Liebe. N.
– Eine wunderbare Geschichte. Sie hat mich sehr berührt. S.
– Oh, unbeschreiblich. Du erstaunst mich immer wieder – eine so bewegte Lebensgeschichte. T.
– Ach wie traurig und schrecklich deine Geschichte ist – und wie tief bewegend. C.
– Deine Zeilen haben mich berührt. Jaime und du. Welch zarter Beginn – welch abruptes Ende. Ich habe mir auf Youtube seine Musisk angehört. Grossartig. S.
Vielen Dank für das Teilen dieser sehr bewegenden Geschichte.
Liebe Iris, guter Blog. Doch Deine Lovestory ist Stoff für einen Roman: Deine Geschichte, Jaimes Geschichte – Euere Geschichte…! Für eine kurze, glückerfüllte Zeit in Luzern verwoben, nach dem abrupten Ende Dein Weg über Grenchen ins Heute, seine Karriere in Kanada – zwei verirrte Teile eines Ganzen. Bis zum klärenden Treffen in Olten. Los, hau in die Tasten.
Liebe Silvia. Danke für deine Nachricht. Schöne Idee, aber ich werde es nicht schaffen, daraus mehr zu machen, als diesen Blog zu schreiben. Alles Liebe!
Liebe Iris, danke für deine Liebesgeschichte die einem schon unter die Haut geht. Wie so oft spielt Geld und Herkunft eine Rolle, da kann ich dir ja die Hand
reichen. Es war wohl weniger tragisch, doch weh getan hatte es zu jener Zeit
gleichwohl. Noch die eine Frage: warum kommen einem solche Erlebnisse oft zu
dieser Jahreszeit in Erinnerung? E liebe Gruess, Hermann
Gute Frage, lieber Hermann. Was meinst Du, warum?