Iris Minder

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Liebe Leserinnen
Liebe Leser

Beim Zurückblicken und sich Erinnern kommt einem das häufig gebrauchte Bild von der Zugfahrt in den Sinn. Leute steigen an einer Station ein, fahren eine Zeitlang mit, steigen bald wieder aus oder bleiben bis zum Ende der Zugfahrt.

Ich finde das ein wunderbares Bild: Eine kurze oder längere Lebensfahrt in Begleitung. Einige steigen aus und nehmen andere Wege. Vielleicht steigen sie nach einer langen Strecke wieder ein. Jede Begleitung ist wichtig und ein Teil des Lebens. Aber was macht den Wert einer Fahrt im Einklang aus?

Im Laufe meines Lebens durfte ich so vielen Menschen begegnen und mit ihnen einen Teil der Fahrt Seite an Seite zurücklegen. Manche beruflich bedingt kurz und wunderbar intensiv und bereichernd oder privat kürzer oder länger wertvoll. Andere halt nicht immer wohltuend. Aber immer waren es Begegnungen, die mich in irgendeiner Form weiterbrachten. Einige haben allerdings auch Wunden, Enttäuschungen und Trauer hinterlassen, einige davon schlecht heilend. Das führt vielleicht dazu, dass man eine Art Mauer um sich aufbaut, um sich zu schützen. Diese Mauer kann sein: Niemanden mehr an sich heranlassen. Es kann aber auch sein, dass man lieber angreift als verletzt zu werden. Und vielleicht muss man harte Entscheide für sich fällen, in dem man sogar einige bitten muss, doch bei der nächsten Station den Zug zu verlassen … oder man setzt sich selber in ein anderes Zugsabteil, wo Menschen reisen, die einem gut tun. Denn man muss in seinem Lebenszug nicht immer am gleichen Ort sitzen bleiben. Sicher haben Sie alle genau diese Erfahrungen auch gemacht.

Wer bleibt länger an unserer Seite auf dieser Lebensfahrt? Ich kann es nicht sagen. Es sind einfach nur Fragen, die dabei auftauchen. Sind es diejenigen, die immer wieder ihre Freundschaft wortgewandt und emotional betonen? Oder erweisen sich die als wertvoll und beständig, die einen loben, ausleuchten und bewundern? Sind es die, welche wie selbstverständlich einfach da sind? Bleiben die Begleitungen länger neben einem, die sich langsam aufbauen? Oder sind es die, welche wie blitzartig einschlagen und man gleich das Blaue vom Himmel holt? Oder die unerwarteten Begegnungen, die erstaunen und langsam aufgebaut werden? Wie ist es mit Mitreisenden, die aussteigen, aber immer wieder einsteigen? Oder im Zug bleiben und ab und zu aus ihrem Abteil auftauchen und man sich gleich wieder vertraut fühlt? Es gibt dazu noch unendlich viele Fragen. Vermutlich muss sich die jeder selber beantworten, je nachdem wie seine Zugreise geht.

Vielleicht sind die wertvollsten Zugsgefährten die, welche uns auch mal spiegeln, die, welche sich uns ihre Sorgen, Nöte und Fehler anvertrauen und auch für das Gleiche von uns ein offenes Ohr haben. Sind es die, welche uns auch mal spiegeln. Vertrauen, Offenheit und Liebe zum andern, ganz gleich wie viele Unzulänglichkeiten er/sie hat, Ehrlichkeit sind möglicherweise auch wichtige Elemente. Gemeinsame Wellenlänge? Vielleicht gehört auch Loyalität dazu. Vielleicht ist es auch wichtig, dass mögliche negative Gefühle kommuniziert werden, dass Diffuses geklärt wird. Das würde zeigen, dass jemandem die Mitreisende etwas wert ist. Es darf auch mal gewittern, geklärt und gesäubert werden. Was während dieser gemeinsamen Fahrt gefährlich ist, scheint mir, wenn man jemanden auf einen Sockel stellt. Jener fällt irgendwann immer herunter, weil er die hohen, oft unrealistischen Erwartungen nicht erfüllen kann. Man kann von der Wegbegleitung nicht erwarten, dass man durch sie ins Scheinwerferlicht kommt, durch sie eigene Wünsche erfüllt werden. Die Hoffnung, dass man sich selber als Begleitung über den andern aufwerten kann, scheint mir auch eher kontraproduktiv für eine gute gemeinsame Reise. Gefährlich ist auch, wenn grosse Versprechungen, Täuschungen und «etwas Vormachen» für die gemeinsame Fahrt im Gepäck mitgenommen werden.

Eines ist sicher: Das alles ist schwierig. Sehr schwierig. Vielleicht ist der Schlüssel zu einer wertvollen gemeinsamen Fahrt Vertrauen und Liebe. Und wenn ich daran denke, wie unvollständig ich bin, wie viele Komplexe, Fehler und Ängste ich habe, dann muss eine Reisegefährtin oder -gefährte viel Liebe und Vertrauen haben. Nur, dies und Loyalität kann man auch von mir erwarten und bekommen. Ja, manchmal fast naive Treue … bis, ja … bis ich mich schützen und in ein anderes Abteil wechseln muss.

Der Zugvergleich hinkt aber auch etwas. Warum? Ich steige ja selber immer wieder in die Züge von andern ein, bleibe oder gehe bald wieder raus. Wenn man sich das bildlich vorstellt, dann umschlingen, überrollen, ergänzen, durchfahren und begleiten sich unendlich viele Züge. Ein wirres Bild! 😉

Ich wünsche allen eine ereignisreiche und wertvolle Zugsfahrt. Eine Fahrt auf der alles, wirklich alles möglich ist.

Herzlichst Ihre Iris Minder

 

P.S.: «Grenchnernetz», der neue Grenchner Krimi, ist nach wie vor über www.buchhaus.ch zu beziehen. Ich habe sehr viele begeisterte Rückmeldungen erhalten. Sie können diese gerne auf meiner Homepage unter Grenchner Krimi lesen. Es war eine spannende und intensive Reise beim Schreiben dieser Geschichte. Ganz viel dazu beigetragen hat der Reisegefährte Christian Ambühl, durch seine Fachberatung, interesssanten Inputs und durch gemeinsame Gespräche.

7 Kommentare

  1. Meine persönlichsten Erlebnisse, zum Thema Bahnfahren ist zufälligerweise auf die Lokomotive
    Ae 6/6 LUZERN Seriennummer 11 404 der SBB.besonders fixiert.
    1955/56 durften wir fast 1000 (!) ausgelosten Luzerner Schulkinder aus jeder Gemeinde des Kantons an der Eröffnungsfahrt mit dieser 11404 nach Faido/TI und zurück teilhaben.Das währe niemals m Budget unserer Bauernfamilie gelegen.Leider war der Unterhaltungswert im extrem heissen Tessin,lief eher unter dem Thema Langeweile. Wenigstens waren die Fahrten selbst über die hist. Gotthardstrecke für mich unvergesslich.Das gleiche gilt vermutlich auch für zwei Mädchen aus unserem Dorf,die in unserem Viererabteil die bei der Rückfahrt wegen ständigem Erbrechen mehr auf dem fahrbaren Trohn gastierten,sofern sie welchen noch rechtzeitig erreichten.Selbst die vom Kt.Tessin gespendeten, grosszügig gefüllten Lunchsäcke versprühten kein Essreiz.Vielleicht fehlt ein Halbliter Merlot …?
    Jahre später,wieder mit 11404 hatten wir auf der Fahrt nach Castelamare di Stabio/Süditalien zur Anheuerung als Koch auf die M/S REGINA hatten wir wegen einer techn.Panne ein stundenlanger Stop,mit anschliessend höchst unangenehmen zeitlichen und finanziellen Folgen beim umsteigen in Milano und besonders einer fast schon kriminellen Taxifahrt ab Bhf. Napoli bis zum Schiffshafen.(Und dies ohne ital.Sprachkenntnisse !).
    Letztes Jahr, entdeckte ich rein zufällig auf einer Wanderung dem Bodensee entlang die ominöse 11404 auf freiem Gelände im sehr empfehlenswert zu besuchendem Bahnmuseum Locorama/Romanshorn.
    So schliesst sich eine über 60 Jahre dauernde,eine rein zufällige ,trotzdem liebliche >metallene< Beziehung im Altersheim für Lokomotiven…diese vermutlich letzte Begegnung zwischen uns,kredenzte ich mit einem feinen Glas Wein aus der Mostregion.

  2. Liebe Iris, ein wunderbarer Block -Du sprichst mir aus dem Herzen und einige meiner Zugfahrten und Reisegefährten tauchen da ziemlich wild wieder auf!

  3. liebe Iris, du hast es auf den Punkt gebracht, genau so verläuft unser Leben … für mich ist es schicksalsbedingt und nicht reiner Zufall … im Nachhinein jedoch erst erkennbar … auch wenn es im Moment sehr schmerzt …

  4. Liebe Iris
    Deine Betrachtung der Zugreisenden finde ich sehr treffend. Wir alle, ob in unserem Zug oder als Zugbegleitung einer andern Person, kennen dieses Verhalten bestens. Ich finde den Vergleich mit dem Zug immer wieder passend. Im Moment bin ich selber gerade damit beschäftigt: soll ich die Notbremse ziehen oder reicht es ein paar Zugreisende aus meinem Lebenszug aussteigen zu lassen?…sobald ich die Antwort erkannt habe werde ich zur Tat schreiten!
    Danke für deine berührende Betrachtungsweise. Herzlichst Karin

  5. Liebe Iris
    Deine Betrachtungen bringen es auf den Punkt.
    Wir haben vor einiger Zeit damit begonnen immer das Zugsabteil zu wechseln, wenn wir mit Menschen zusammen waren, die einem nicht gut tun. Es ist zwar nicht immer einfach und braucht manchmal Kraft, aber es lohnt sich immer.
    Danke für deine interessante und treffende Betrachtungsweise. Liebe Grüsse, Lisbeth & Tony

  6. Liebe Iris
    Das ist lustig, wenn ich an eine Bahnfahrt in meiner Jugendzeit denke,
    kommt mir der Fussmarsch, von gut 1 Std.zum Bahnhof in den Sinn. Wir wohnten im freiburgischen auf dem Land. Zum Beispiel die Schulreise, morgens früh um halb sechs zu Fuss auf steinigen Wegen, vorbei an Bauernhöfen, über Wiesen, durch den Wald bis endlich der langersehnte Bahnhof in Sichtweite kam.
    Freutig bestiegen wir den Zug, wo wir auf Holzbänken Platz nahmen.
    Ein schönes Erlebnis konnte beginnen.

    Liebe Grüsse Margrit

  7. Liebe Iris, was für ein guter Beitrag, ja die Eisenbahn ist halt einmalig für Geschichten
    noch und noch. Nach fast vierzig Jahren unterwegs mit der Bahn habe ich
    viel erlebt, doch eine etwas spätere Reise bleibt mir in besonderer Erinnerung.
    An einem kalten Wintertag wars, als ich den Zug bestieg, der mich Richtung Jura
    führte, verbunden mit umsteigen was das Zugfahren auch spannend macht. Es
    kann eine lange Reise werden gab die Zugführerin zu verstehen, als ich beim um
    steigen mit mehreren Reisenden im gleichen Wagen sass. So gabs Gespräche
    wir lernten einander kennen und sprachen über unser Leben, welches von Freu
    den und Leiden geprägt und interessant war. Vor manchem roten Signal mussten wir anhalten aber bei grün hat uns unsere Zugführerin immer auf dem
    richtigen Gleis weiter gebracht. Die Reise wurde wie erwähnt lang, Passagiere
    kamen und gingen und das Abschied nehmen war nicht immer leicht. Auf Bahn
    höfen wo unser Zug anhielt wurden wir meistens von fremden Menschen empf
    angen und erlebten wunderbare Stunden miteinander. Die Reise führte noch weiter, doch der nächst halt galt mir und ich musste den Zug verlassen. Die Reise endete mit einem Koffer voller Erinnerungen an die so tolle Zugführerin
    und all die lieben Mitreisenden im gleichen Wagen

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