Iris Minder

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Liebe Theaterfreundinnen, liebe Theaterfreunde

Gerade erst feierten wir Derniere des letzten „Kofferstückes“. Bereits wieder ist diese Produktion Geschichte und Erinnerung. So gehören jetzt alle drei Koffer-Produktionen, biografisches Theater meiner Seniorenbühne, des „theater JAWOHL“ der Vergangenheit an. Es waren die Stücke „Ein Koffer voller Erinnerungen“: „Kinder der 30er und 40er Jahre“, „Kinder der 50er und 60er“ Jahre und die „70er Jahre“. Ich erinnere mich mit Freude und lieben Gedanken an diese drei Stücke und all die wundervollen Menschen, die diese Produktionen erst ermöglicht haben. Einige sind leider inzwischen bereits verstorben.

Ich liebe diese Form von Theater, das Erinnerungstheater. Es ist authentisch. Die Spielenden übernehmen keine Rolle, sondern zeigen sich selber, ganz persönlich. Das Erzählen und die Darstellung ihrer erinnerten Ereignisse sind nicht nur für das Team selbst wertvoll, sondern widerhallt bei den Zuschauern und lässt vieles aus deren Lebensgeschichte aufleben und verarbeiten. Sie können sich nach der Vorstellung austauschen und ihre eigenen Geschichten erzählen. Es tauchen nicht nur Bilder an frohe, glückliche und leichte Zeiten auf. Gerade, weil meine Theaterleute den Mut haben, auch Trauriges, Schreckliches oder Peinliches darzustellen, motiviert das unsere Zuschauer selbst darüber zu reden. Dass ich Seniorenteams habe, die dazu bereit sind, über ihr Leben zu berichten, ist für mich ein grosses Geschenk. Ich bin dafür unglaublich dankbar und schätze mich glücklich, mit so wunderbaren Menschen arbeiten zu dürfen, Menschen, die Vertrauen in meine Arbeit haben und sich überhaupt auf so ein Abenteuer einlassen.

 

Wie entsteht ein biografisches Stück?

An mehreren Nachmittagen sitzen wir zusammen und tauschen uns zu verschiedenen Themen aus. Es wird diskutiert, nachgefragt und ergänzt. Es sind dem Zeitgeist und dem Alter der Spielenden angepasste Bereiche: Schule, Essen, Ehe, Aufklärung, Kleidung, Musik, Ängste, Freuden, Politik, Glückliches, Traumatisches usw. usw. Wie erlebten die Theaterleute die jeweiligen Zeitströmungen, Denkweisen oder Neuerungen? Wie haben sie in dieser Zeit ihren Platz gefunden? Dieses sind Fragen, die gemeinsam besprochen werden.

All diese Erinnerungen schreibe ich fast synchron mit meinem Labtop auf. Bei schweren Themen frage ich dann jeweils nach, ob die Erzählenden wirklich bereit seien, das einem breiteren Publikum zu erzählen. Ich bemühe mich subtil vorzugehen und frage bei heiklen Erinnerungen mehrfach nach. All die gesammelten Erzählungen bearbeite ich anschliessend dramaturgisch und setze die einzelnen Szenen und Erzählungen wie eine Collage zusammen, stilisiert und mit ästhetischen Kriterien. Dokumente, Fotos, Filme und Requisiten können die Produktion bereichern.

Dann beginnen die Proben. Wir brauchen das Textbuch als roten Faden. Sehr viel entsteht dann während der Inszenierungsarbeit mit intuitiven Eingebungen und Improvisationen. Es ist ein Geben und Nehmen. Und am Schluss steht eine Produktion, die einen tiefen, lebendigen Einblick in Biografien und den Zeitgeist gelebter Jahre skizziert. Und wie das Leben so ist, wechseln sich Freude und Leid dann auf der Bühne ab.

 

Die Dernière der 70er-Jahre-Produktion

Gerade erst haben wir Derniere von „Ein Koffer voller Erinnerungen – 70er Jahre“ feiern können. Die Rückmeldung der Veranstalterin zeigt uns, dass unsere Erinnerungen – wie eingangs erwähnt – auch für die Zuschauer etwas Besonderes sind:

«Wir wollen uns noch einmal ganz herzlich bedanken für eure Derniere bei uns. Es war unvergesslich und toll. Schon der Anfang mit den Fotos der Schauspielerinnen und Schauspieler hat uns gepackt. Dieses sehr persönliche Stück hat uns alle sehr berührt. In vielem haben sich die Zuschauerinnen und Zuschauer wiedererkannt. Schöne Erinnerungen kamen zum Vorschein, Schwieriges, wie unsere Leben eben verlaufen. Und zum Schluss das Ratespiel, alle waren mit Freude und Eifer dabei. Du bist eine liebevolle und fachfrauische Regisseurin und befähigst die Schauspieler zum Spielen, Tanzen und Singen, Einrad fahren, einfach unglaublich.

Euer Theater klingt immer noch nach. Viele schwärmen immer noch und bekunden ihre Begeisterung. Sie geben mir den Auftrag, euch bald wieder zu engagieren, was ich natürlich gerne machen werde. Eine Frau meinte: Sie habe gemeint, es wäre so ein Theater („Schwank“), aber euer Stück hat alles übertroffen!!!»

 

Die erste Koffer-Produktion

Wir haben Krieg im Osten von Europa. Ob er im Osten bleibt? Ob er sich auf ganz Europa ausweitet? Für uns im Moment unvorstellbar. Doch von 1939-1945 tobte in Europa ein grauenhafter Krieg, der sich sogar auf die ganze Welt ausgeweitet hat. Und meine erste Kofferproduktion hat sich genau diesem Thema angenommen. Es teilten Kinder der damaligen Zeit ihre Erinnerungen mit uns. Wertvolle Zeitzeugen. Da war die kleine Gerda, die die Besetzung ihrer Heimat Dänemark traumatisch erlebte. Oder die deutsche Irmgard, die hungerte und tagelang im Schutzkeller ausharren musste. Dann Maria aus Österreich. Als Kindergartenkind musste sie beim Besuch von Hitler in Salzburg ein Gedicht aufsagen und bekam von Hitler einen Kuss auf die Wange. Ruth, die direkt an der Grenze in Schaffhausen Bombardierungen erlebte. Hermann, der als Verdingkind, sehr gemischte Erinnerungen an diese Zeit hatte. Alice, Jenny, Viktor und Margrit, die eindrücklich über ihr Leben in der kriegsverschonten Schweiz erzählten, über die Entbehrungen, die grauenhaften Erziehungsmethoden und psychischen Verletzungen. Und doch gab es auch schöne Erinnerungen wie Kartoffeln über einem Feuer auf dem abgeernteten Feld braten. Dann die Kleiderregeln – Irmgard hatte den Mut, sich in den unliebsamen «Gstälti» zu zeigen, mit denen Knaben und Mädchen die Strümpfe festschnallen mussten. Oder das Nähen von Kleidern aus Vorhangstoff … usw.

«Koffer voller Erinnerungen – Kinder der 30er/40er Jahre» hat an den Aargauer Theatertagen den dritten Preis erhalten. Ich bin ein wenig stolz über die Beurteilung der Fachjury:

«Ein riesengrosses Lob ans Theater, JAWOHL¡ Grenchen ging von der Fachjury aus. Man sei bereits nach wenigen Sekunden mittendrin im Stück. Die erzählten Erinnerungen seien berührend, eindrücklich und tiefgehend. Die Vorstellung sei nie abgeflacht, die Senioren seien bis zuletzt ungeheuer präsent gewesen und – obwohl schon mehrfach gespielt – hätte man den Eindruck bekommen, wie wenn sie die Geschichten der andern zum ersten Mal hören würden. Das vor allem ältere Publikum sei tief berührt und gespannt still gewesen. Das sei ein Zeichen für wirkliches Theater besonders, wenn – wie bei der Seniorenbühne Grenchen – Eindrücke noch lange nachhallen. Die Juroren waren sich einig: Chapeau für die Spielenden und die hervorragende Regiearbeit.»

Ich werde dran bleiben und versuchen, zu verschiedenen Themen biografisches, dokumentarisches Erinnerungstheater zu kreieren und hoffe, dass es weiterhin auch möglich sein wird. An Herzblut, Energie und Ideen fehlt es nicht.

Herzlich Ihre Iris Minder

 

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2 Kommentare

  1. Ja, es war einfach eine ganz reiche Zeit mit dir und dem Team, die wir “auf der Insel” verbrachten. Sowohl das Einstudieren wie die Aufführungen waren ein stetiges Lernen mit Lust und Freude. Ich zehre noch heute davon. – Danke, liebe Iris!

  2. Ich durfte zum ersten Mal beim Theater Jawohl mitwirken und habe durchs Band weg tolle, lustige und lehrreiche Erinnerungen. Das erarbeiten des Stücks unter Deiner Leitung, das Lampenfieber und die Nervosität, den absoluten Willen aller Mitwirkenden eine tolle Vorstellung zu bieten und das Gegenseitige sich aus der Patsche helfen, wenn’s grad mal schief lief, hat mich sehr beeindruckt. Danke Iris!

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