Iris Minder

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Ich beginne gleich ganz «gescheit» mit dem lateinischen Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. (Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen) Er passt perfekt zu meinem Theaterwerdegang, von dem ich in diesem Blog berichten möchte.

Erste Infizierung mit meiner Welt

Sa, 13. Juni 2020: Am Ort meiner “Einweihung”

Mein erstes Zusammentreffen und Erleben von Theater geht in die 50er Jahre zurück. Ich bin etwa sechs Jahre alt. Im Stadttheater Luzern hat man im Dezember Weihnachtsmärchen inszeniert. Ich darf mit meiner Mutter ins Theater. Was für ein Ereignis. Man zeigt «Schneeweisschen und Rosenrot». Ich kann nicht genau sagen, was da mit mir geschehen ist. Meine Welt hat sich aufgetan und manifestiert. Es ist so ein Gefühl, wie wenn ich aus dieser Welt komme und zu dieser Welt gehöre. Hier können die Bilder, die in mir sind, zu Leben erweckt werden.

Meine Mutter liest uns immer vor dem Schlafen Märchen und Kinderbücher vor. Und jetzt spüre ich die Möglichkeit, dass ich die Vorstellung dieser Welten selber erschöpfen kann. Klar, kann ich das mit sechs Jahren noch nicht so formulieren. Aber das Gefühl von, das ist meine Welt, da gehöre ich hin, ist überwältigend. Auf dem Rückweg mit dem Bus bin ich völlig weg und spüre dieses Wunder in andern Welten leben zu können. Von der Busstation aus gehen wir zu Fuss über den Seetalplatz, ich an der rechten Hand meiner Mutter. Noch voll von diesen überwältigenden Eindrücken sage ich zu meiner Mutter: «Ich will Schauspielerin werden.» Meine Mutter erwidert: «Das gehört sich nicht in unserer Familie.» Schock.

Stolze Anerkennung

Zur Verteidigung meiner Mutter muss ich jetzt aber hinzufügen, dass in den 50er Jahren der Beruf der Schauspielerin recht zwiespältig ist. Man hat zwar grosse Schauspielerinnen gefeiert und respektiert. Gleichzeitig aber ist da dieses Image von leichten Mädchen, die sich mit Männern einlassen, Männer verführen, sich durch bürgerliche Protegés ihr Leben finanzieren, sich auf der Bühne entblössen. Für ein bürgerliches Mädchen ist der Beruf der Schauspielerin nicht standesgemäss.

Aus der heutigen Sicht ist die Antwort meiner Mutter durchaus nachzuvollziehen und zu verstehen. Umso mehr als schon damals viele Mädchen davon träumen, Schauspielerin zu werden. Sie kann damals nicht wissen, wie sehr dieser Wunsch mein ganzes Wesen betrifft. Und jetzt komme ich zum eingangs angeführten Sprichwort, dass sich die Zeiten ändern und wir uns mit ihnen.

Mein Weg zu dem, was ich bin und mich ausmacht, ist holprig, mit vielen Sackgassen. Unter anderem auch deshalb, weil für mich die Theaterwelt dermassen grossartig und traumhaft erschienen ist, dass ich mich gar nicht getraut habe, dort einzusteigen. Das Gefühl, dem nicht zu genügen, ist viel stärker gewesen. Aber ich bin jetzt doch hier angekommen. Und meine Mutter war unendlich stolz auf meine Arbeit, meine Schöpfungen und stand mir in meinen Unsicherheiten und Zweifeln immer bei. Was gibt es da Wertvolleres!

Teenagerschwärmerei

Das Gefühl für Kultur, sei es Musik, bildende Kunst oder auch Theater ist bei der Erziehung meiner Eltern sehr wichtig und ist für mich prägend. Ich verdanke ihnen in diesen Bereichen eine breite Allgemeinbildung und Affinität. Kultur ist ein zentraler Bestandteil meiner Kindheit- und Jugendzeit.

Mich zieht es allerdings immer zu den darstellenden Künsten wie – wen wundert’s – zum Theater, zur Oper. Noch heute berühren mich melodiöse Arien von männlichen Stimmen. Was gibt es Erotischeres als einen Mann, der gefühlvoll singen kann! Sie schmunzeln? Aber so ist es nun mal. Noch heute sitzt tief in mir der Wunsch, selber einfach hinstehen zu können und rein und wohlklingend zu singen. Na ja, vielleicht in einem anderen Leben. Wer weiss.

Als Jugendliche darf ich Mitglied von der Jugendtheatergemeinschaft (ich weiss nicht mehr genau wie das heisst) vom Stadttheater Luzern sein. Wann immer möglich, fast in meiner ganzen Freizeit, gehe ich in die Vorstellungen. Ich weiss nicht mehr, wie oft ich beim Künstlereingang warte, um die Künstler hautnah zu sehen.

Woran ich mich sehr gut erinnere ist, dass einmal die Oper «Hoffmanns Erzählungen» aufgeführt wird. Ganze sechs Mal gehe ich in die Vorstellung. Die Arie der Olympia klingt noch heute in mir nach und ich sehe sie auf der Bühne vor mir. Und: Noch heute bekomme ich weiche Knie, wenn ich die Arie «Leuchte hell, mein Diamant» höre. Das hat so viele Emotionen in mir ausgelöst, dass ich – dem Backfisch-Alter entsprechend – vom Bariton schwärme. Ich schwärme dermassen von ihm, dass ich ihn mal zuhause besuchen will. Er erscheint in der Türe, mit Bigoudi in den Haaren und rosaroten Finken an den Füssen. Das hat mir etwas von meinem «Verliebtsein» genommen! Trotzdem habe ich meinem Meerschweinchen dessen Vornamen «Adolf» gegeben.

Ach ja, es gäbe noch viel zu erzählen. Nur noch eines: Ich bin angekommen. Ich bin dort, wo ich mich bereits als sechsjähriges Mädchen hin gesehnt habe. Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen. Wunderbar!

Herzlichst Ihre Iris Minder

Foto: Stadttheater Luzern um 1912 (Bild: Carl Griot)

5 Kommentare

  1. Du bist definitiv schon lange dort angekommen wo Du hin solltestwolltest und bist seit einiger Zeit dabei dies mit Deiner schriftstellerischen Tätigkeit noch mehr zu manifestieren 😉

    1. Wie wunderbar, dass die “Sonne deiner Begabungen” schon so früh aufgegangen ist, und nun die Strahlen davon in der Begegnung mit dir, mit dem reichen Theaterschaffen, den Büchern und vieles mehr – auch uns bereichern und wärmen. Danke dir – und deiner Mutter in Gedanken auch!

  2. Mein erster Theaterbesuch zusammen mit meiner jüngeren Schwester war die Kindervorstellung “Hans im Glück”. Wir standen zusammen im Gedränge und als wir endlich an der Kasse ankamen, merkte ich, dass ich meinen Zweifränkler nicht mehr hatte. Ich rannte nach Hause und holte Ersatz.Endlich hatte ich zwei Plätze in der hintersten Reihe .Als der Vorhang aufging und ein Schwein an den Bühnenrand rannte, fing meine Schwester zu schreien an “wie am Spiess”. Eine Frau von der Garderobe holte sie aus dem Zuschauerraum. Ich blieb. “Theater ist immer schön!”

  3. Liebe Iris
    8 Jahre später war mein erstes Weihnachtsmärchen “Dornröschen” !
    Es gab doch zu Adolf noch Mario, das zweite Meerschweinchen…. Wo gehörte denn Mario hin?
    Herzlich
    Doris

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