Iris Minder

Blog

E chly zrügg luege (29)

Liebe Leser*innen

Die Sendung PERSÖNLICH ist vorbei. Eine grossartige, intelligente Daniela Lager als Moderatorin und ein sympathischer, engagierter Marcel Paa haben es mir sehr leicht gemacht, über mich zu reden. Ich denke, dass wir alle drei unseren Beruf mit Liebe und Herzblut ausüben. Ich weiss, schon wieder rede ich von Herzblut. Aber, je älter ich werde, desto mehr finde ich, dass es zentral ist, ganz gleich, was man macht. Aber darüber möchte ich heute nicht schreiben. Es geht um die Frage, was es auslöst, wenn sich eine berühmte Moderatorin von SRF an mich wendet und mich einlädt, in diese Sendung, in der es um Persönliches geht, also um sich selber, zu kommen.

Vorgespräch

Daniela Lager kam zu einem Vorgespräch zu mir ins Theateratelier, wo ich zusammen mit meiner Freundin Nadja Rothenbühler (Leiterin des Kindertheater BLITZ) die Arbeitsräume habe. Sehr schnell fragte sie mich über meine Kindheit und Schulzeit aus, inspiriert durch meine Blogbleiträge. Das löste bei mir tagelange innere Dialoge aus. Es wurden Bilder ins Bewusstsein hochgeladen, Gefühle, Trauer, löste aber auch Verständnis und Akzeptanz aus. Ich überlegte dauernd, wie ich darüber reden soll, wenn das Thema drauf kommen sollte, damit niemand verletzt oder angeklagt wird. Diese Zeit war für mich nämlich nicht ganz so toll und hat mich bis heute geprägt. Dank diesen täglichen inneren Dialogen kann ich alles heute aus einer eher abgeklärten Distanz sehen. Wichtig ist zu sagen: Mir geht es rundum gut undich fühle mich privilegiert, diese wunderbare Arbeit machen zu können, unterstützt durch viele Menschen, die mitmachen, mir Mut machen, mir Anerkennung geben oder meine Arbeit durch Sponsoring oder als Mäzene unterstützen.

Papagei

Im Blog vom 3.5.2020 habe ich eine Geschichte als Metapher für diese Zeit der Kindheit geschrieben. Der Papagei jedoch in seiner Buntheit ist nicht unbedingt wegen der Farben positiv dotiert. Das Fremdsein, nicht Angepasstsein und nicht Akzeptiertsein war vorrangig. Kurz und gut: Ich war ein dickes, immer dreckiges, wildes und fgefühlsgeladenes Kind, das man bändigen, erziehen, massregeln musste, weil es dauernd aneckte durch seinen Drang zu handeln, sich zu bewegen. Ein Kind, das man gar nicht unbedingt lieben konnte. Kein braves, süsses kleines Mädchen, an dem man seine Freude haben konnte. Einer meiner Primarschullehrer hat mal in sein Buch geschrieben, dass für mich Grenzen da seien, um sie zu überschreiten, sie zu sprengen.

In der ersten Klasse wurde ich dauernd vor die Türe geschickt. Ich langweilte mich, begann im Schulzimmer herumzulaufen, zu singen, zu pfeifen … mich einfach auffällig zu verhalten. Eine Szene ist mir dabei in schrecklicher Erinnerung. Aus Angst, wieder anzuecken, etwas falsch zu machen und in der Bemühung nicht aufzufallen, hatte ich es nicht gewagt, die Hand zu strecken und zu bitten, auf die Toilette zu gehen. Das führte dann zum Malheur. Sie können es sich vorstellen. Mit Schimpf und Schande wurde ich nach Hause geschickt und alles wurde noch viel schlimmer.

Selten wurde ich an Kindergeburtstage eingeladen. Bei den Spielen auf dem Pausenplatz musste ich bitten, mitmachen zu dürfen. Von sich aus hat mich kaum jemand aufgeboten. Man betitelte mich mit Fettlawine, fette Sau, Nilpferd. Mein grösster Wunsch während meiner Primarschulzeit war es, eine richtige, enge Freundin zu haben. Einmal fragte ich eine Schulkollegin, nachdem ich einmal zu ihr nachhause eingeladen wurde, ob wir jetzt Freundinnen wären? Sie meinte ja, Schulfreundinnen. Ich hatte nachgefragt, ist das gleich viel wert? Sie meinte ja. Aber tief in mir drin spürte ich, dass es eigentlich eine Zurückweisung als wahre Freundin war. Bei diesen Erinnerungen merkte ich, dass das alles für mich völlig normal war. So im Sinne: Ich war nicht richtig, etwas mit mir stimmt nicht, ich bin irgendwie falsch. Also, ändere dich.

Andere

Ich erinnere mich an eine andere Schulkollegin. Einmal, in der dritten, vierten Klasse, hat mich deren Mutter eingeladen. Ich war völlig erstaunt und fühlte mich richtig privilegiert. Diese Mutter bat mich, ihrer Tochter in der Schule zur Seite zu stehen, weil sie ausgeschlossen und gehänselt würde. Mir ginge es ja auch nicht gut in der Klasse. Ich hatte weder gemerkt, dass es ihr schlecht ging, noch konnte ich es nachfühlen. Leider ist dann aus heutiger Sicht auch keine Freundschaft daraus entstanden. Ich habe als Kind überhaupt nicht verstanden, was da los war. Diese Schulkollegin ist noch nie an eine Klassenzusammenkunft gekommen, so schlimm musste es für sie gewesen sein. So gerne würde ich heute mal mit ihr reden.

Da gab es noch einen schlaksigen, liebevollen Jungen. Er war ein völliger Aussenseiter, roch nach Stall und trug manchmal dreckige Schuhe. Er lächelte mich immer wieder an, was für mich etwas ganz Tolles war. Aber – und das bedauere ich heute sehr – ich getraute mich nicht, mich mit ihm zusammenzutun. Ich wollte doch neben allen Makeln nicht auch noch als Buebemeitschi verhöhnt werden. Dabei spielte ich zuhause in der Freizeit fast ausschliesslich mit Nachbarsbuben, tobte herum und machte Unsinn mit ihnen. Mit den Mädchen zu «bäbele» war mir zu langweilig. Dies vor allem, weil diese leblosen Puppen mich überhaupt nicht interessierten. Was sollte ich mit Plastikteilen? Der lebendige Austausch mit richtigen Mensche, das bedeutete mir etwas. Und genau dafür hätte ich mir auch eine echte Busenfreundin gewünscht, mit der ich das Gleiche hätte unternehmen können, wie mit den Buben. Aber Bäbele und Müeterle?

All dies – möglicherweise nennt man es heute Mobbing – ist sehr prägend. Besagter Schulkollege hatte sich später, als ihn seine Verlobte verliess, das Leben genommen. Das geht mir heute noch nahe.

Mir sagte mal eine Schulkollegin, weil ich als Reformierte nicht wie sie die Sünden beichten konnte, würde ich in die Hölle kommen. Das passte dann irgendwie zu allem anderen. Deshalb schlich ich mich immer wieder in die Marienkirche und habe mit extrem schlechtem Gewissen Weihwasser aus dem Becken genommen und mich damit bekreuzigt, wie ich es denen abgeschaut hatte. Ich bin oft dorthin gegangen, weil ich ja nie brav war und hoffte, dass alles gut wird und ich jetzt nicht durch Gott in die Hölle verbannt werde. Aber ich hatte riesige Angst, entdeckt zu werden.

Es war aber auch für andere schwierig: Wer rote Haare hatte wurde gehänselt, wer Probleme in der Schule hatte, wer arm war, wer anders gekleidet war. Und ich schäme mich, es zu schreiben, aber da machte ich halt dann auch mit. Es gab mir das Gefühl, einmal auch dazuzugehören. Grauenhaft!

Und dann?

Was mich betrifft bin ich gesegnet mit einer inneren Kraft – vielleicht genau die Kraft, die mich in meiner Kindheit zur Aussenseiterin stempelte. Sie hat mich durchs ganze Leben, die Aufs und vielen Abs getragen. Diese Kraft habe ich als Geschenk sozusagen in die Wiege gelegt bekommen. Diese Energie, meine Intuition, meine Kreativität, meine Schnelligkeit im Denken und im Durchsetzen von Ideen – was damals  hinderlich war – hat mir bis heute ein erfülltes Leben geschenkt. Ich bin so was für dankbar.

Trotzdem gibt es da tief in mir diese Prägung, die mich nebenher begleitet. Eine tiefe Trauer, wenn ich ähnliche Situationen wie damals, und sind sie noch so klein und unbedeutend , erlebe. Es hat auch mein Selbstbild geprägt. So im Sinne, ich bin irgendwie anders, etwas ist nicht richtig mit mir. Und ich bin ja vermutlich auch zu wild, zu ungestüm, zu aktiv, zu emotional, zu intensiv, so dass sich Leute von mir abwenden oder mich schlecht machen. Damit erfüllt sich dann oft halt meine Prägung.

Das ist halt so. Was ich nach wie vor aus Vorsicht nicht mache, ist, über mein Inneres zu reden, mich zu öffnen. Nicht immer einfach in Beziehungen. Aber das ist ja auch eine gute Strategie, Verletzungen zu vermeiden, sich auszuliefern. Das ist aber alles nicht zentral, es ist einfach so ein Grundton in den Tiefen meiner Seele. Ich akzeptiere es und mache weiter mit dem, zu dem es mich immer wieder drängt, sei es Schreiben, Inszenieren, Organisieren.

Ich bin dankbar für mein Leben.

Mit liebem Gruss und den allerbesten Wünschen für friedliche Zeiten.

Ihre Iris Minder

11 Kommentare

  1. Guten Tag Frau Minder, “Persönlich” war ganz toll. Danke! In diesem Blog sehe ich mich ganz ähnlich in der Schulzeit. Kontakt habe ich mit 2 Schulkolleginnen. Eine wohnt in Mailand und die Andere in New York. Das sagt wohl alles. Grüsse und einen schönen Tag. Katrin Halbenleib

  2. Die Sendung berührte mich sehr, habt Ihr/Du ganz toll gemacht. Besonders auch Daniela Lagers: liebe Iris .Im Unterbewusstsein (Erlebnisse) lagern viele Ereignisse. Könnte auch ein Buch schreiben. Weiterhin viel Glück auf all Deinen /Euren Wegen

  3. liebe Iris, eine wunderbare Zusammenfassung deiner Kindheit – traurig – melancholisch aber unglaublich ehrlich. Chapeau! Schreibst du mir bitte, wie ich den ausgestrahlten Bericht im Netz finden kann – wir haben CH Fernsehen, ich kann jedoch über mein IPad alte Sendungen ansehen. Hier auf dem Inselchen immer noch 28 Grad und das Wasser ist 24 Grad – herrlich.

  4. Liebe Iris
    E chly zrügg luege habe ich aufgrund deiner Beiträge auch gemacht. Diese Blogs regen an, um im
    eigenen Leben etwas zurückzuschauen. Da wir beide gleich alt sind und beide in Luzern aufgewachsen sind, ergeben sich gewisse Parallelen. Dafür ganz herzlichen Dank. Ich freue mich schon auf die neuen Anregungen im nächsten Jahr. Du machst hoffentlich weiter mit deinem Blog.
    Ich wünsche Dir eine friedliche, besinnliche Adventszeit und schicke liebe Grüsse.

  5. Liebe Iris,
    ich habe eine ähnliche Kindheit erlebt. Da glaubt man, alles sei “hingere u gmäit” oder verarbeitet
    und dann…..
    Schön, dass du alles mit einer “rosafarbigen ” Brille betrachten kannst und diese Erlebnisse
    auch eine positive Wirkung erzeugt haben.

  6. Liebe Iris,
    Herzliche Gratulation zur Sendung. Das war ganz toll. Lustig mit Witz und trotzdem tiefgründig und sehr interessant. Speziell für uns war noch, dass die Sendung zusammen mit Marcel Paa stattfand. Wir haben einige Rezepte von ihm.
    Dein Blog ist auch sehr interessant und hat auch mich dazu veranlasst etwas zurückzuschauen.
    Ich bin eigentlich noch recht gut durch meine Kindheit gekommen. Wenn ich aber die Primarschule etwas näher betrachte, so hatten die Lehrer und Lehrerinnen mehrheitlich bestraft und gemoppt anstatt gefördert.
    Ein Beispiel: In meinem Jahrgang war ein Mädchen das relativ dick und gross war. Einmal als ich im Unterricht nicht aufpasste, musste ich zur Strafe neben dieses Mädchen sitzen. Man stelle sich das einmal vor, wie sich das Mädchen gefühlt haben muss.
    Wir haben uns dann aber so gut verstanden, dass ich den Lehrer fragte ob ich den Rest des Schuljahres neben diesem Mädchen bleiben dürfe. Wir sind heute immer noch befreundet, haben aber diese Situation nie mehr angesprochen.

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