Dienstag: Ich bin auf dem Weg nach Traubach le bas. Von Pratteln bis Basel Stau. Von Basel bis zur französischen Grenze stockender Kolonnenverkehr. Ist nun dieses gehemmte Vorwärtskommen ein Vorzeichen für meine Klausur? Werde ich blockiert sein und das Stück fürs Freilichtspiel 2019 bis Freitag nicht aufgleisen können?
In meinem Kopf ein wirres Durcheinander. Zwanzig Spielerinnen und Spieler möchten eine Sprechrolle. Schaffe ich es für jedes eine spannende Figur zu kreieren? Wo lege ich den Schwerpunkt in meiner eigenen Version von Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe»? Liegt er beim Thema Gier und Missgunst? Liegt er beim Thema Liebe? Oder sogar beim Tod? Und der schwarze Geiger? Wie bringe ich all die vielen Schauplätze auf die Bühne? Es dreht sich immer mehr in meinem Kopf. Bühnenbild-Figuren-Interpretation-Dialoge-Spielende-Technik-mich nicht wiederholen-Neues schaffen-Namen finden-Schattenspiel-Hologramm-in meinem Kauderwelschdialekt schreiben-oder Hochdeutsch und übersetzen lassen: Wer? Wie? Was? Wo? Warum? Woher? Wohin?
Es dreht und wirrt und macht mir Kopfweh. Ich gehe mit Mira in den naheliegenden Wald. Auslüften. Dem Drehen einen Fluss in eine Richtung geben. An einem Weiher sitzend atme ich tief durch und erinnere mich: Ich mache meine eigene Version von Kellers Novelle. Ich beschliesse, dass es um Liebe gehen soll, um Freundschaft. Es gibt sehr viele Arten von Liebe. Ich muss mich darauf konzentrieren beschliesse ich. Ich lasse das Thema Gier, das bei Keller so wichtig ist, weg. Ich glaube, es wird von selber kommen. Denn wo Liebe fehlt, entsteht Neid, Eifersucht, Missgunst und Leid. Das kommt ganz automatisch. Es wird klarer in meinem Kopf und wieder zurück in meinem Klausurzuhause beginne ich Figuren aufzuschreiben, ihnen Spielerinnen und Spieler zuzuordnen. Sie sind jetzt da. Auf Papier sozusagen. Als Idee. Als nebulöse Gestalten. Und jetzt gehe ich einkaufen.
Mittwoch
Die erste Szene habe ich gestern schreiben können. Ich musste mich zweimal disziplinieren. Wenn ich innerlich angespannt bin und nach Lösungen suche, dann bin ich fast süchtig nach Süssigkeiten. Beim Einkauf gestern musste ich sehr streng mit mir sein, damit ich keine Schoggi kaufte … und ich habe es geschafft … als Belohnung habe ich mir dann rote Unterwäsche gekauft! Das zweite Disziplinieren war dann wieder im Laufe des Abends: Mich hinsetzen und eine erste Szene schreiben. Ich hatte es geschafft. Belohnung: Ich fühle mich gut.
Das Aufstehen war sehr belastet. Ich wusste, heute geht es sozusagen um die Wurst. Der erste ganze Tag zum Schreiben, da muss was passieren, da muss ich vorwärtskommen. Und ich hatte keine Idee. Jedenfalls nicht im Kopf. Musste erst mal als erstes die Hauptpersonen vorstellen, sie einführen. Und wie immer taten sie es fast wie von selber. Sie begannen zu leben, mich zu leiten. Drei Figuren haben rebelliert. Sie wollten keine Bänkliszene, lieber aktiv werden. Und so habe ich sie anders zugeordnet. Und siehe da. Es klappte. Das mag esoterisch klingen, befremdlich sein. Aber genauso kommt es mir vor. Ich setze mich hin, beginne einen Dialog, weitere kommen dazu, andere wollen sich anders präsentieren als vorgesehen, wieder andere wollen sich unbedingt einmischen. Sie zeigen mir ihren Charakter. Und das geschieht einfach so. Deshalb sage ich oft: Nicht ich mache die Figuren, sie erscheinen von selber und wollen leben.
Ich bin heute weiter gekommen als geplant. Das tut echt gut. Und ich musste weder Süsses noch ersatzweise rote Unterwäsche einkaufen!
Donnerstag
Gestern vor dem Einschlafen musste ich nochmals aufstehen. Es ging einfach nicht anders. Ich musste einfach alles durchlesen und zum ersten Mal überarbeiten und konnte noch ein paar Dinge ergänzen und ändern.
Heute beim Aufwachen dann wieder diese Unsicherheit und Bangigkeit, ob ich es heute schaffe, weiter zu schreiben, die Geschichte vorwärts zu treiben, den Figuren ihr Leben zu geben.
Und jetzt paar Stunden später frage ich mich, warum ich immer so zweifle und mich ängstige. Es ging ja vorwärts. Wie von selbst, obwohl das etwas trügt. Es steckt wirklich Arbeit dahinter. Nur empfinde ich es nicht so.
Morgen Freitag kann ich dann am Morgen nochmals schreiben. Wie geht es dann weiter? In den nächsten vierzehn Tagen wird das Stück fertiggestellt und zum ersten Mal überarbeitet. Das ist dann Kopf- und Fleissarbeit. Dann schicke ich es zum Lektorat. Mit viel Herzklopfen natürlich. Dann überarbeiten, überarbeiten … und dann heisst es loslassen. Natürlich nur als Autorin. Es beginnt meine Arbeit als Regie und so werde ich als erstes den Probenplan erstellen und ihn den Spielenden senden.
Stockt’s oder fliesst’s: Das ist immer wieder die zentrale Frage. Vor dem Stocken habe ich Bammel … und dann fliesst es und ich staune und staune. Übrigens: Heute habe ich mich belohnt und habe mir ein süsses Zvieri in einer Boulangerie gegönnt! Jawohl!
Übrigens: Das intensive Schreiben hat auch ein paar Nebenwirkungen. Wenn ich den Laptop zuklappe, Pause mache, rausgehe oder mich gemütlich ausruhe, dann läuft die Fantasie weiter und belästigt mich mit Angstbildern wie Autounfall, Attentat im Supermarkt, Brand im Haus, Überfall u.ä. Das muss ich dann konsequent stoppen und auslöschen. Was mir auch immer gelingt. Zum Glück!
Herzlich Iris Minder
P.S. Das Bild ist für mich ein sehr passendes Symbol für dieses kreative Geschehen während des Schreibens. (Polarlicht in Finnland. Internet. Pinterest)
4 Kommentare
Hallo Iris, hab letzte Woche ein paar Mal an dich gedacht. Wie es dir wohl mit dem Stück schreiben geht. Ist interessant zum Lesen. Wünsche dir noch viele tolle kreative und gute Einfälle. Es Grüessli Ruth
Hoi Iris,
ich habe mir Freude Deinen „Klausurbericht“ gelesen Das Erzählte
erinnert mich stark an mein Schaffen im Atelier, wenn es um eine neue Skulptur geht, die Skizze immer wieder überdacht, geändert, um dann doch so wie beim ersten Gedanken umgesetzt werden soll.
Dann die Qual der Wahl des Materials. Und wieder der Gedanke, ob sich die Umsetzung überhaupt lohnt.
Dann anfangen wollen, Panik nicht genau zu wissen wo…..und überhaupt warum eigentlich.
Langer Rede kurzer Sinn: ich kann Dich sehr gut nachempfinden.
Liebe Grüsse bis morgen
Franziska
Toi, Toi, Viel Vergnügen zum weiterschreiben. Ich freue mich schon auf die Aufführung
Liebe Grüsse
Edith
Sehr mutig, einem in die Gedankengänge und Gefühle Einblick zu geben. Mensch, ist das spannend! Herzlichen Dank. Ich denke, ohne Zweifel, ohne ewig lange vorangehende Denkarbeit und ohne kaum zu erklärende “Eingaben” wären so phänomenale Werke, wie sie bei Dir entstehen, kaum möglich.